HEXENGEBRÄU
ber die brennenden Steppen war die Nacht
hereingebrochen. Das Dach aus trübem Rauch verdeckte den Mond und
die Sterne und tauchte das Land in völlige Dunkelheit, die nur vom
schwachen Glimmen der sporadischen Torffeuer durchdrungen wurde und
von den Fackeln, die beide Armeen entzündet hatten. Von Eragons
Position im vorderen Lagerabschnitt aus wirkte das Heerlager des
Imperiums wie ein Netz aus unregelmäßigen Lichtern, weitläufig wie
eine Stadt.
Während Eragon das letzte Stück der Rüstung
an Saphiras Schwanz befestigte, schloss er die Augen, um besseren
Kontakt zu den Magiern der Du Vrangr Gata zu haben. Er musste üben,
sich jederzeit blitzschnell mit ihnen in Verbindung zu setzen. Sein
Leben hing davon ab. Im Gegenzug mussten die Magier lernen, seine
Berührung zu erkennen, damit sie ihn nicht abblockten, wenn er sie
zu Hilfe rufen musste.
Eragon lächelte. »Hallo Orik.« Er öffnete
die Augen und sah seinen Freund auf die kleine Anhöhe steigen, auf
der er mit Saphira saß. In der linken Hand trug der Zwerg seinen
Urgalhorn-Bogen.
Orik hockte sich neben Eragon, wischte sich
über die Stirn und schüttelte den Kopf. »Woher hast du gewusst,
dass ich es bin? Ich habe mich doch abgeschirmt!«
Jedes Bewusstsein fühlt
sich anders an, erklärte Saphira. Genauso wie jede Stimme anders klingt.
»Aha.«
Eragon fragte: »Was führt dich
hierher?«
Orik zuckte mit den Schultern. »Ich dachte
mir, du könntest vielleicht ein bisschen Gesellschaft brauchen in
dieser trüben Nacht. Zumal Arya anderweitig beschäftigt ist und du
bei dieser Schlacht auf Murtagh verzichten musst.«
Ich wünschte, er wäre
hier, dachte Eragon. Murtagh war der einzige Mensch
gewesen, der Eragon im Schwertkampf ebenbürtig war, zumindest vor
der Blutschwur-Zeremonie. Sich mit ihm zu messen, war eine der
wenigen Vergnügungen in ihrer gemeinsamen Zeit
gewesen. Ich hätte dich gern noch einmal
an meiner Seite gehabt, alter Freund.
Als er sich vergegenwärtigte, wie Murtagh
gestorben war - die Urgals hatten ihn in Farthen Dûr unter die Erde
gezerrt -, musste Eragon sich eine ernüchternde Wahrheit
eingestehen: Ganz gleich, was für ein herausragender Krieger man
war, oftmals entschied ganz allein das Schicksal, ob man die
Schlacht überlebte oder ob man starb.
Orik musste seine Stimmung gespürt haben,
denn er klopfte Eragon auf die Schulter und sagte: »Mach dir keine
Sorgen. Stell dir mal vor, wie sich die Soldaten da drüben fühlen
müssen, wo sie doch wissen, dass sie es bald mit dir zu tun kriegen!«
Eragon lächelte dankbar. »Ich freue mich,
dass du hier bist.«
Oriks Nasenspitze lief rot an und er schlug
die Augen nieder und rollte verlegen den Bogen zwischen den
knorrigen Händen. »Hmm«, brummte er. »Hrothgar würde es nicht
gefallen, wenn ich zuließe, dass dir etwas zustößt. Außerdem sind
wir doch so etwas wie Stiefbrüder.«
Was ist mit den anderen
Zwergen, die hier sind? Unterstehen sie deinem
Befehl?, fragte Saphira den Zwerg, und Eragon
übermittelte ihre Frage.
Ein Funkeln trat in Oriks Augen. »Wieso? Ja,
natürlich. Sie werden sich bald zu uns gesellen. Eragon ist ja
nicht nur ein Drachenreiter, sondern auch Mitglied des Dûrgrimst
Ingietum, und so ist es nur recht und billig, dass wir an eurer
Seite gegen das Imperium kämpfen. Auf diese Art und Weise seid ihr
weniger angreifbar. Ihr könnt euch darauf konzentrieren,
Galbatorix’ Magier zu finden, statt euch ständiger Angriffe
erwehren zu müssen.«
»Gute Idee. Dank dir.«
Orik brummte eine Erwiderung. Dann fragte
Eragon: »Was hältst du von Nasuada und den Urgals?«
»Ich finde ihre Entscheidung richtig.«
»Du findest sie richtig?«
»Mir gefällt es genauso wenig wie dir, aber:
Jawohl, ich finde sie richtig.«
Dann umfing sie Stille. Eragon lehnte sich
an Saphira, starrte zu den feindlichen Truppen hinüber und
versuchte, sich nicht von seiner wachsenden Aufregung überwältigen
zu lassen. Die Minuten zogen sich hin. Für ihn war die endlose
Warterei vor einer Schlacht ebenso nervenaufreibend wie der
eigentliche Kampf. Er fettete Saphiras Sattel ein, polierte ein
paar rostige Stellen an seinem Kettenhemd, dann fuhr er fort, sich
mit seinen Magiergefährten vertraut zu machen. Er tat alles, damit
die Zeit verging.
Mehr als eine Stunde später stutzte er, als
er im Niemandsland zwei Gestalten wahrnahm. Angela? Solembum? Erstaunt und aufgeschreckt
weckte er Orik, der eingenickt war, und erzählte ihm von seiner
Entdeckung.
Der Zwerg runzelte die Stirn und zog die
Streitaxt unterm Gürtel hervor. »Ich bin der Heilerin nur ein
paarmal begegnet, aber sie kam mir nicht vor wie jemand, der uns
verrät. Sie ist bei den Varden seit Jahrzehnten gern
gesehen.«
»Wir sollten trotzdem herausfinden, was sie
dort getan hat«, sagte Eragon.
Gemeinsam bahnten sie sich einen Weg durch
das Lager, um das Duo abzufangen, wenn es die Befestigungsanlangen
erreichte. Wenig später trottete Angela ins Licht, Solembum zu
ihren Füßen. Die Hexe war in einen knöchellangen, dunklen Umhang
gehüllt, der sie mit der nächtlichen Landschaft verschmelzen ließ.
Mit einem erstaunlichen Maß an Eifer, Kraft und Gelenkigkeit
überwand sie die Brustwehrreihen, schwang sich von einem Holzpflock
zum nächsten, sprang über Gräben und kam schließlich den steilen
Hang des letzten Erdwalls heruntergestolpert, um japsend vor
Saphira stehen zu bleiben.
Sie streifte die Kapuze zurück und lächelte
sie strahlend an. »Ein Begrüßungskomitee! Wie aufmerksam von euch!«
Während sie noch sprach, erbebte die Werkatze und ihr Fell sträubte
sich. Dann verschwammen ihre Umrisse wie trübes Wasser und nahmen
einmal mehr die nackte Gestalt eines kleinen Jungen mit Wuschelkopf
an. Angela langte in einen Lederbeutel und reichte Solembum ein
Kinderwams und Kniehosen, dazu den kleinen Dolch, mit dem er
kämpfen sollte.
»Was hattet ihr da draußen zu suchen?«,
fragte Orik und musterte die beiden argwöhnisch.
»Ach, dies und das.«
»Erzähl es uns lieber«, knurrte
Eragon.
Ihre Gesichtszüge wurden hart. »Tatsächlich?
Vertraust du Solembum und mir nicht mehr?« Der Junge fletschte die
spitzen Zähne.
»Nicht so ganz«, gestand Eragon, allerdings
mit leisem Lächeln.
»Das ist gut«, sagte Angela. Sie tätschelte
ihm die Wange. »Dann lebst du länger... Also, wenn du es unbedingt
wissen musst: Auch ich helfe nach Kräften, das Imperium zu
besiegen, allerdings ohne herumzubrüllen und mit Schwertern zu
fuchteln.«
»Und wie genau stellst du das an?«, knurrte
Orik.
Angela faltete in aller Ruhe ihren Umhang
zusammen und verstaute ihn in dem Lederbeutel. »Das möchte ich
lieber für mich behalten. Es soll eine Überraschung sein. Ihr
werdet es ohnehin bald herausfinden. In ein paar Stunden geht es
los.«
Orik zupfte an seinem Bart. »Was geht los?
Wenn du uns nicht ehrlich antwortest, bringen wir dich zu Nasuada.
Vielleicht kann sie es ja aus dir herausquetschen.«
»Du brauchst mich nicht zu Nasuada zu
bringen«, sagte Angela. »Sie hat mir die Erlaubnis gegeben, das
Lager zu verlassen.«
»Das behauptest du«, sagte Orik, der immer angriffslustiger
wurde.
»Und ich behaupte das auch«, sagte Nasuada, die aus
der Finsternis trat, wie Eragon bereits gespürt hatte. Sie wurde
von vier Kull begleitet, darunter Nar Garzhvog. Mit düsterer Miene
wandte er sich zu ihnen um und machte keine Anstalten, seinen Ärger
über ihre Anwesenheit zu verbergen.
Orik sprang laut fluchend auf und schwang
die Streitaxt über dem Kopf. Dann wurde ihm klar, dass dies kein
Angriff war, und er begrüßte Nasuada knapp. Doch seine Hand ruhte
weiterhin auf dem Griff der Waffe und sein Blick heftete sich auf
die bulligen Urgals. Angela schien keinerlei Vorurteile zu hegen.
Sie begrüßte Nasuada mit angemessenem Respekt und redete dann mit
den Urgals in deren grollender Sprache, woraufhin diese mit
offenkundiger Freude antworteten.
Nasuada trat mit Eragon ein paar Schritte
beiseite, damit sie ungestört reden konnten. Dann sagte sie: »Ich
möchte, dass du deine Vorbehalte fürs Erste vergisst und das, was
ich dir zu sagen habe, mit Logik und Verstand beurteilst. Kannst du
das?« Er nickte mit starrer Miene. »Ich tue alles, um
sicherzustellen, dass wir morgen nicht verlieren. Allerdings ist es
egal, wie gut wir kämpfen oder wie gut ich die Varden anführe und
sogar ob wir das Imperium besiegen, wenn«, sie stieß ihm den Finger
gegen den Brustkorb, »wenn du dabei getötet wirst. Verstehst du?«
Er nickte erneut. »Ich kann nichts zu deinem Schutz tun, falls
Galbatorix sich zeigt. Wenn er das tut, bist du auf dich allein
gestellt. Die Du Vrangr Gata ist für ihn keine größere Bedrohung
als für dich, und ich werde nicht zulassen, dass man sie grundlos
auslöscht.«
»Mir war immer bewusst«, sagte Eragon, »dass
ich und Saphira allein gegen Galbatorix kämpfen würden.«
Ein trauriges Lächeln umspielte Nasuadas
Lippen. Sie sah sehr müde aus im flackernden Fackellicht. »Nun, man
muss ja nicht gleich mit dem Schlimmsten rechnen. Es ist gut
möglich, dass Galbatorix gar nicht hier ist.« Sie schien ihren
Worten allerdings selbst keinen rechten Glauben zu schenken. »So
oder so, ich kann dich zumindest davor bewahren, dass du durch
einen Schwertstoß in den Bauch stirbst. Ich weiß, was die Zwerge
vorhaben, und ich dachte mir, dieses Konzept ließe sich noch ein
wenig verbessern. Ich habe Nar Garzhvog und drei seiner Männer
gebeten, als deine Wachen zu fungieren, vorausgesetzt, sie würden
sich bereit erklären, ihren Geist vorher von dir auf verräterische
Gedanken überprüfen zu lassen - und sie haben ihr Einverständnis
gegeben.«
Eragon erstarrte. »Du kannst doch nicht von
mir erwarten, Seite an Seite mit diesen Ungeheuern zu kämpfen! Außerdem haben sich die
Zwerge bereit erklärt, Saphira und mich zu bewachen. Sie würden es
nicht hinnehmen, wenn ich sie zugunsten der Urgals
fortschickte.«
»Das sollst du auch gar nicht tun. Sie
werden dich gemeinsam bewachen«, gab Nasuada zurück. Sie sah ihn
lange an, suchte nach etwas Unausgesprochenem. »Ach, Eragon, ich
hatte gehofft, du könntest deinen Hass überwinden! Was würdest du
an meiner Stelle tun?« Sie seufzte, als er nicht antwortete. »Wenn
jemand Grund hat, die Urgals zu verdammen, dann ich. Sie haben
meinen Vater getötet. Aber ich kann nicht zulassen, dass dies meine
Entscheidungen beeinflusst, wenn es um das Wohl der Varden geht …
Frag wenigstens noch einmal Saphira, bevor du Ja oder Nein sagst.
Ich kann dir befehlen, die Urgals als Wachen zu akzeptieren, aber
das würde ich lieber vermeiden.«
Du bist
kindisch, sagte Saphira ungefragt.
Weil ich nicht will,
dass ein Kull hinter mir steht?
Nein, weil es in
unserer gegenwärtigen Lage töricht wäre, Hilfe abzulehnen, und weil
es keine Rolle spielt, woher sie kommt. Denk nach! Du weißt, was
Oromis tun, und du weißt auch, was er sagen würde. Vertraust du
seinem Urteil nicht mehr?
Er kann auch nicht
immer Recht haben, sagte Eragon.
Das ist kein
Argument... Gehe in dich, Eragon, und sag mir, ob meine Worte wahr
sind. Du kennst den richtigen Weg. Ich wäre enttäuscht, wenn du es
nicht fertig brächtest, das zu erkennen.
Saphiras und Nasuadas Gerede machte Eragon
nur noch widerspenstiger. Und doch wusste er, dass ihm nichts
anderes übrig blieb. »Na schön, dann sollen sie mich eben bewachen.
Aber nur, wenn ich keine verdächtigen Gedanken in ihren Köpfen
finde. Versprichst du mir, dass ich nach dieser Schlacht nie wieder
mit Urgals zusammenarbeiten muss?«
Nasuada schüttelte den Kopf. »Das kann ich
nicht tun, nicht wenn es den Varden schadet.« Sie hielt inne und
sagte: »Ach, und Eragon?«
»Ja, Herrin?«
»Für den Fall meines Todes habe ich dich zu
meinem Nachfolger bestimmt. Sollte es so weit kommen, möchte ich,
dass du dich auf Jörmundurs Ratschlag verlässt - er hat die größte
Erfahrung von allen Ratsmitgliedern - und dass du das Wohl deiner
Untertanen über alles andere stellst. Habe ich mich deutlich
ausgedrückt, Eragon?«
Ihre Erklärung kam völlig überraschend.
Nichts war ihr wichtiger als die Varden. Ihm dieses Amt anzubieten,
war der größtmögliche Vertrauensbeweis. Es ehrte und rührte ihn. Er
neigte den Kopf. »Ich würde mich bemühen, ein so guter Anführer zu
sein, wie du es bist und dein Vater es war. Du ehrst mich,
Nasuada.«
»Ja, das tue ich.« Sie wandte sich um und
kehrte zu den anderen zurück.
Noch immer überwältigt von Nasuadas
Eröffnung, die seinen Zorn etwas beschwichtigt hatte, kehrte Eragon
zu Saphira zurück. Er studierte Nar Garzhvog und die anderen Urgals
und versuchte, ihre Stimmung einzuschätzen, doch ihre Gesichtszüge
waren so anders als diejenigen, an die er gewöhnt war, dass er
ihnen nichts zu entnehmen vermochte. Auch gelang es ihm nicht, für
die Urgals auch nur einen Hauch von Sympathie aufzubringen. Für ihn
waren sie wilde Tiere, die ihn bei der erstbesten Gelegenheit
umbringen würden, die nicht fähig waren, Liebe und Güte zu
empfinden, und noch nicht einmal echte Intelligenz besaßen. Kurz
gesagt, sie waren niedere Geschöpfe.
Tief in seinem Geist flüsterte
Saphira: Ich bin mir sicher, Galbatorix
ist derselben Meinung.
Und zwar aus gutem
Grund, brummte er, um sie zu ärgern. Er unterdrückte
seinen Abscheu und sagte laut: »Nar Garzhvog, mir wurde berichtet,
dass ihr vier bereit seid, euch von mir überprüfen zu
lassen.«
»Das stimmt, Feuerschwert. Die Nachtjägerin
hat diese Bedingung gestellt. Es ist eine große Ehre für uns, Seite
an Seite mit einem so mächtigen Krieger kämpfen zu dürfen, der so
viel für uns getan hat.«
»Wie meinst du das? Ich habe dutzende von
Urgals getötet.« Plötzlich fielen Eragon Passagen aus Oromis’
Schriftrollen ein. Er erinnerte sich, gelesen zu haben, dass die
Urgals, Männer wie Frauen, ihre Stellung in der Gesellschaft durch
den Kampf bestimmten und dass es vor allem diese Praxis war, die zu
vielen Konflikten zwischen Urgals und anderen Völkern geführt
hatte. Und wenn sie ihn, Eragon, so sehr für seine Heldentaten in
der Schlacht rühmten, räumten sie ihm damit gewissermaßen den
gleichen Status ein wie einem ihrer Kriegshäuptlinge.
»Indem du Durza getötet hast, hast du uns
von seinem Einfluss befreit. Wir stehen in deiner Schuld,
Feuerschwert. Du hast von uns nichts zu befürchten, und wenn du und
dein Drache, Flammenzunge, unsere Hallen besucht, wird man euch als
Freunde empfangen.«
Eragon hatte mit allem gerechnet, nur nicht
damit, dass die Urgals ihm dankbar sein würden, und er fragte sich,
wie er darauf reagieren sollte. Da ihm nichts Besseres einfiel,
sagte er nur: »Ich werde es mir merken.« Er blickte kurz zu den
anderen Urgals, dann schaute er wieder in Nar Garzhvogs gelbe
Augen. »Bist du bereit?«
»Ja, Drachenreiter.«
Als Eragon nach Nar Garzhvogs Bewusstsein
tastete, erinnerte er sich daran, wie die Zwillinge nach seiner
Ankunft in Farthen Dûr in seinen Geist eingedrungen waren. Der
Gedanke wurde hinfortgespült, als er in die Persönlichkeit des Kull
eintauchte. Der Zweck seiner Suche - nämlich böse Absichten zu
erkennen, die sich womöglich irgendwo in der Vergangenheit
verbargen - erforderte, dass Eragon Jahre von Erinnerungen
durchforsten musste. Im Gegensatz zu den Zwillingen vermied er es,
dabei absichtlich Schmerzen zu bereiten, aber er ging auch nicht
besonders sanft vor. Einige Male spürte er, wie Nar Garzhvog
unbehaglich zusammenzuckte. Wie bei den Zwergen und Elfen besaß
auch der Geist eines Urgals andere Elemente als der des Menschen.
Seine Struktur betonte Starrheit und Hierarchie - ein Resultat der
Stammesorganisation der Urgals - und fühlte sich roh, brutal und
verschlagen an: der Geist eines wilden Tieres.
Obwohl er sich nicht bemühte, mehr über Nar
Garzhvog als Individuum zu erfahren, lernte Eragon doch einiges
über dessen Leben. Der Kull widersetzte sich nicht. Er schien sogar
darauf erpicht zu sein, ihm seine Erlebnisse zu zeigen, um Eragon
davon zu überzeugen, dass Urgals nicht von Natur aus seine Feinde
waren. Wir können es uns nicht leisten,
dass ein weiterer Drachenreiter an die Macht gelangt, der uns
vernichten will. Sieh genau hin, o Feuerschwert, und versuche zu
erkennen, ob wir wirklich die Ungeheuer sind, für die du uns
hältst...
Es stürmten so viele Bilder und Empfindungen
auf Eragon ein, dass er fast den Überblick verlor: Nar Garzhvogs
Kindheit in einem halb verfallenen Dorf tief im Herzen des Buckels.
Seine Mutter, die ihm mit einem Kamm aus Hirschgeweih durch die
Haare fuhr und ihm dabei leise vorsang. Wie er lernte, mit bloßen
Händen Wild zu erlegen, wie er wuchs und wuchs, bis offenkundig
war, dass in seinen Adern noch das alte Blut floss und er über
zweieinhalb Meter groß werden würde und damit ein richtiger Kull.
Die unzähligen Mutproben, denen man ihn unterzog und die er alle
bestand. Wie er sein Dorf verließ, um sich einen Namen zu machen,
damit er später eine Frau für die Paarung finden würde. Und wie er
allmählich anfing, die Welt zu hassen und zu fürchten - ja,
zu fürchten -, die sein Volk
verdammt hatte. Die Schlacht in Farthen Dûr, die Entdeckung, dass
Durza sie manipuliert hatte, und die Erkenntnis, dass ihre einzige
Hoffnung auf ein besseres Leben darin bestand, alte Differenzen
auszuräumen, sich mit den Varden zu verbünden und Galbatorix zu
stürzen. Ein Anzeichen dafür, dass Nar Garzhvog log, konnte er
nirgends finden.
Eragon verstand nicht, was er gesehen hatte.
Er verließ Nar Garzhvogs Geist und überprüfte die drei anderen
Urgals. Ihre Erinnerungen bestätigten nur, was er zuvor erfahren
hatte. Sie verbargen nicht, dass sie Menschen getötet hatten, doch
das war auf Durzas Befehl hin geschehen, als der Zauberer sie noch
beherrschte oder als sie um Land oder Essen kämpfen
mussten. Wir haben getan, was wir tun
mussten, um für unsere Familien zu sorgen, vermittelten
sie ihm.
Als Eragon fertig war, baute er sich vor Nar
Garzhvog auf und wusste, dass der Stammbaum des Urgals so makellos
wie der eines Prinzen war. Er wusste, dass Nar Garzhvog zwar
ungebildet, aber dennoch ein brillanter Kommandeur und ein genauso
großer Denker und Philosoph war wie Oromis. Auf jeden Fall ist er klüger als ich, gestand
Eragon Saphira. Er hob das Kinn und entblößte die Kehle als Zeichen
seines Respekts. »Nar Garzhvog«, sagte er, und plötzlich dämmerte
ihm, dass »Nar« offenbar ein angesehener Titel war. »Ich bin stolz,
dich an meiner Seite zu haben. Du kannst deiner Herndall
ausrichten, dass ich nicht gegen euch vorgehe, solange ihr zu eurem
Wort steht und euch nicht gegen die Varden wendet.« Eragon
bezweifelte zwar, dass er einen Urgal jemals mögen würde, aber die eisernen Vorurteile, die
er noch vor wenigen Minuten gehegt hatte, kamen ihm jetzt haltlos
vor, und er konnte sie nicht länger mit seinem Gewissen
vereinbaren.
Saphira stupste ihn mit der rauen Zunge an,
sodass die Ketten leise rasselten. Es
verlangt Mut zuzugeben, dass man sich getäuscht hat.
Nur wenn man Angst hat,
wie ein Narr dazustehen. Ich hätte noch viel dümmer ausgesehen,
wenn ich an einem Irrglauben festgehalten hätte.
Was du da gerade gesagt
hast, war sehr weise, Kleiner. Trotz ihres scherzhaften
Tones spürte er deutlich, wie stolz sie auf ihn war.
»Wir stehen schon wieder in deiner Schuld,
Feuerschwert«, sagte Nar Garzhvog. Er und die anderen Urgals
schlugen sich mit der Faust an die vorgewölbte Stirn.
Eragon merkte, dass Nasuada gern genau
gewusst hätte, worum es ging, doch sie hielt sich zurück. »Gut. Das
wäre also erledigt. Ich muss weiter. Eragon, Trianna wird dir mein
Signal übermitteln, wenn die Zeit gekommen ist.« Damit wandte sie
sich um und verschwand in der Dunkelheit.
Als Eragon sich wieder zu Saphira setzte,
rutschte Orik zu ihm heran. »Zum Glück werden die Zwerge da sein,
was? Wir werden die Kull mit Argusaugen beobachten. Wir werden
nicht zulassen, dass sie dir in den Rücken fallen, Schattentöter.
Wenn sie dich angreifen, schneiden wir ihnen die Beine ab.«
»Ich dachte, du wärst wie Nasuada der
Meinung, wir sollten das Angebot der Urgals annehmen.«
»Das heißt aber nicht, dass ich ihnen traue
und gern mit ihnen zusammen bin.«
Eragon lächelte und machte sich nicht die
Mühe, dem Zwerg zu widersprechen. Wie sollte er Orik klar machen,
dass die Urgals gar keine mordlustigen Ungeheuer waren, wo er
selbst noch vor kurzem ganz anderer Meinung gewesen war?
Die Nacht umfing sie wie ein schwarzer
Umhang, während sie auf den Morgen warteten. Orik zog einen
Wetzstein aus der Tasche und schärfte das gebogene Blatt seiner
Streitaxt. Als die anderen Zwerge eintrafen, folgten sie seinem
Beispiel, und das Schaben von Metall auf Stein erfüllte die Luft
mit einem knirschenden Kanon. Die Kull saßen Rücken an Rücken und
sangen leise ihre Todeslieder. Eragon vertrieb sich unterdessen die
Zeit damit, sich selbst, Saphira, Orik und sogar Arya mit
Schutzzaubern zu belegen. Er wusste, dass es gefährlich war, so
viele Personen zu schützen, aber er hätte es nicht ertragen, falls
einem von ihnen etwas zustoßen würde. Als er fertig war, übertrug
er so viel Kraft, wie er wagte, auf die Diamanten im Gürtel von
Beloth dem Weisen.
Eragon schaute interessiert zu, als Angela
ihre grün-schwarze Rüstung anlegte und danach aus zwei einzelnen
Holzstangen das Mittelstück ihres Doppelschwerts zusammensetzte,
bevor sie die stählernen Klingen in die Enden einschraubte. Sie
ließ die fertige Waffe einige Male über dem Kopf rotieren, bis sie
zufrieden feststellte, dass sie den Anforderungen der Schlacht
standhalten würde.
Die Zwerge beobachteten sie missmutig und
Eragon hörte einen grummeln: »Reinste Blasphemie, dass irgendjemand
außer dem Dûrgrimst Quan das Hûthvír schwingt!«
Danach vernahm man nur noch die Katzenmusik
der Zwerge, die ihre Klingen wetzten.
Es war kurz vor dem Morgengrauen, als ein
Getöse einsetzte. Eragon und Saphira hörten es aufgrund ihrer
gesteigerten Wahrnehmung als Erste, aber bald waren die
Schmerzensschreie so laut, dass auch die anderen sie vernahmen.
Orik stand auf und schaute zu den Truppen des Imperiums hinüber.
»Was für Folterknechte sind das bloß, dass sie ihren Opfern ein so
furchtbares Geheul entlocken? Da erstarrt einem ja das Mark in den
Knochen.«
»Ich habe ja gleich gesagt, ihr würdet nicht
lange warten müssen«, bekundete Angela. Ihre gute Laune war
verflogen. Sie war blass und hohlwangig und ganz grau im Gesicht,
als wäre sie krank.
Von seinem Platz neben Saphira aus fragte
Eragon: »Du bist dafür
verantwortlich?«
»Ja. Ich habe ihren Eintopf vergiftet, ihr
Brot, ihr Wasser - alles, was ich finden konnte. Einige werden
sofort sterben, andere später, wenn das Gift seine volle Wirkung
entfaltet. Den Offizieren habe ich Nachtschatten verabreicht, damit
sie in der Schlacht Halluzinationen bekommen.« Sie versuchte zu
lächeln, aber mit wenig Erfolg. »Keine ehrenwerte Art zu kämpfen,
aber immer noch besser, als selber den Tod zu finden.«
»Nur Feiglinge und Diebe benutzen Gift«,
rief Orik aus. »Welchen Ruhm bringt es schon, einen geschwächten
Gegner zu töten?« Unterdessen wurden die Schreie immer lauter und
schmerzerfüllter.
Angela lachte verdrossen. »Ruhm? Wenn du
Ruhm willst - es gibt noch abertausende von Soldaten, die ich nicht
vergiftet habe. Ich schätze, nach der Schlacht wirst du schon
deinen Anteil am Ruhmabbekommen
haben.«
»Hast du deswegen die Sachen aus Orrins Zelt
gebraucht?«, fragte Eragon. Er fand ihr Vorgehen abstoßend, tat
aber so, als wüsste er nicht, ob es gut oder schlecht war. Es war
notwendig. Angela hatte die Soldaten aus demselben Grund vergiftet,
aus dem Nasuada das Angebot der Urgals akzeptiert hatte - weil es
um das Überleben der Varden ging.
»Ganz genau.«
Die wimmernden Schreie der Soldaten wurden
immer zahlreicher, bis Eragon sich am liebsten die Ohren zugestopft
und das Geräusch ausgesperrt hätte. Er bekam eine Gänsehaut, wurde
nervös und knirschte mit den Zähnen. Doch er zwang sich hinzuhören.
Das war der Preis, den man zahlen musste, wenn man sich gegen das
Imperium stellte. Es wäre falsch gewesen, diese Tatsache zu
ignorieren. So saß er mit geballten Fäusten und verkrampften
Kiefermuskeln da, während auf den brennenden Steppen die
körperlosen Stimmen sterbender Männer erschallten.